Yvonne Keuls: Die Tochter meiner Mutter
In der Nacht vor meiner Geburt träumte meine Mutter, dass ich an einer Art Blase hing, einem bohnenförmigen Ballon, der mich langsam mit nach oben nahm. Sanft schaukelte ich im Nichts, bis plötzlich die Blase zerplatzte – geräuschlos, vollkommen geräuschlos – und ich nach unten geschwebt kam, immer noch sanft schaukelnd im Nichts. Sie hatte keinen Augenblick Angst, dass ich hart auf der Erde landen würde, denn ich war nicht schwerer, sagte sie, als eine flauschige Pusteblume.
In der Nacht, in der meine Mutter starb, träumte ich,dass sie an einer Art Blase hing. Sie hatte den Pelzmantel an, den mein Vater ihr gleich nach unserer Ankunft in Holland gekauft hatte. Der hochgeschlagene Pelzkragen verbarg ihr Gesicht. Wie ein Fallschirmspringer hing sie da, aber sie schaukelte nicht. Ganz langsam sah ich sie verschwinden. Plötzlich hatte ich das Gefühl zu fallen. Aus Schwindel erregenden Höhen sauste ich in die Tiefe. Gleichzeitig hörte ich das Klingeln eines Telefons und taumelte in die Wirklichkeit.
Ich wachte auf, und noch bevor ich den Hörer abnahm, wusste ich, dass mein älterer Bruder anrief, um mir zu sagen, dass unsere Mutter gestorben war. Ich wusste, dass sie mit dem Sterben gewartet hatte, bis er bei ihr sein würde. Sie hatte sich das Sterben für ihn vorbehalten, so wie sie immer für jeden von uns etwas beiseite legte. Für meinen jüngeren Bruder hatte sie in einer winzigen Pfanne auf dem Herd immer eine Bratwurst bereitstehen oder ein Hühnerbein oder irgendeinen indonesischen Leckerbissen. Ich brauchte gar nicht zu versuchen, ein Stückchen davon zu mopsen, denn sie schlug sofort meine Hand weg: „Weg da, das ist nicht für dich.“
Manchmal war sein Häppchen schon ganz vertrocknet, wenn er kam. Aber dann tat sie so, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie hielt meinem Bruder die glühend heiße Pfanne unter die Nase – ihre immer zu langen Ärmel zog sie dann noch länger und benutzte sie als Topflappen – und setzte ihren ganzen weiblichen Charme ein. Mit ihrer liebenswürdigsten Stimme sagte sie: „Für dich, ich hab’s extra aufgehoben.“
„Oh, lecker“, sagte er und blickte sich schon suchend um, wohin er die ihm zugeteilte Portion diesmal verschwinden lassen könnte. Wieder hinter das Foto unseres Vaters auf dem Kamin? Wieder schnell unter den Teewärmer, der sowieso nie benutzt wurde? Wieder in eine der fünf kelchförmigen Jugendstillampen, die in der Mitte der Wohnzimmerdecke schon seit vierzig Jahren mit vereinten Kräften für die Beleuchtung sorgten? Mein Bruder, mit seinen langen Armen und seinem langen Oberkörper, konnte die Wurst oder das Hühnerbein dort leicht entsorgen, denn meine Mutter, die immer einen steifen Nacken hatte, schaute nie da hoch.
Für meine Schwester sammelte sie in einem Marmeladenglas Fünf-Cent-Münzen. Vielleicht hat sie damit angefangen, als fünf Cent noch etwas wert waren, jedenfalls hat sie nie damit aufgehört. Wenn das Marmeladenglas voll war, nahm sie es mit zu meiner Schwester nach Hause, schüttete es auf dem Tisch aus und stapelte die Münzen zu lauter Häufchen im Wert von einem Gulden. „Aber nicht alles auf einmal aufbrauchen“, sagte sie dann, wenn sie stolz den Endbetrag nannte.
Meine Schwester litt an Multipler Sklerose und hatte eigentlich andere Sorgen, aber sie musste doch immer über die Fünf-Cent-Münzen meiner Mutter lachen.
Für mich hob sie Knöpfe auf, die sie von ihren abgelegten Kleidern abschnitt. In meiner Knopfschachtel, die ursprünglich ihr gehört hatte, befinden sich noch immer einige Exemplare mit Artdeco-Motiven aus den Zwanzigerjahren und von kurz nach dem Krieg: Knöpfe aus Ton. Geschichte in Knöpfen. Sie wusste, dass ich mich dafür interessierte. Für ihre Enkelkinder sammelte sie alles, was klimperte oder glitzerte, oder was »in« war, vom Schlüsselanhänger bis zum Fußballerbildchen, alles, was möglicherweise einen freudigen Aufschrei aus ihnen hervorlocken würde, und auch hier wusste sie immer genau, zu welchem Kind welcher besondere Blickfang passte.
„Mammie ist gestorben“, sagte mein älterer Bruder. Seine Stimme klang ruhig. Wie sollte es auch anders sein? Eine Frau von sechsundneunzig Jahren durfte ja wohl getrost sterben? Und hatten wir es nicht gewusst? Sie lag doch schon seit längerem im Krankenhaus. Wir lösten einander regelmäßig an ihrem Bett ab. Es war klar, dass es jeden Tag so weit sein konnte.
„Sie schlief. Ich wollte gerade für einen Moment hinaus auf den Gang gehen. Ich war schon aufgestanden, und plötzlich sah ich … Ihr Gesicht wurde plötzlich ganz weiß, als wäre eine Wolke darüber hinweggezogen. Sie hörte auf zu atmen. Und weg war sie. Ich habe gesehen, wie es passierte, weg, fort…“
„Ach, Mammie …“, sagte ich. Mehr nicht. Eigentlich hatte ich sagen wollen: „Ich wusste es, sie hat sich in ihrem Pelzmantel heimlich davongestohlen“, aber das passte nicht zu meinem Bruder.
„Ich war dabei“, sagte er fast entschuldigend.
„Dann haben wir alle beide was bekommen“, sagte ich. „Für mich hatte sie einen Traum.“