Kristien Hemmerechts: Im Garten der Unschuldigen
Wie gern würde ich mit der Beschreibung von etwas Schönem beginnen, einem tiefblauen See, umgeben von exakt kegelförmigen Vulkanen, einem tosenden Wasserfall tief in einem Urwald, einer plätschernden Quelle, die in sumpfigem Grasland entspringt, einem Teppich wilder Hyazinthen, ausgerollt in einem dunklen Wald, Orten, die ich auf Reisen mit anderen Menschen gesehen habe, vielleicht gibt es sie noch, nicht alles ist verdorben.
Als einzige von uns dreien bin ich zurückgekehrt in das Dorf, in dem wir als Kinder unsere Ferien verbrachten, kein Dorf eigentlich, sondern ein Weiler mit jahrhundertealten Häusern, einer Erziehungsanstalt für unerwünschte Mädchen und einem einzelnen Apartmentgebäude, das man hastig hochgezogen hatte für Urlauber wie uns. Ich habe die verfallene Mühle wiedergesehen, wo wir Verstecken spielten und das Brot verzehrten, das wir vom Tisch stibitzt hatten; ich habe mich an die knorrige Platane gelehnt, auf die wir kletterten, um heimlich die Mädchen aus der Anstalt in ihrem ummauerten Garten zu beobachten, und habe vergeblich gegen die Hintertür des Anstaltsgebäudes gedrückt, bei der wir uns oft herumtrieben, in der Hoffnung, einen Blick auf die Mädchen zu erhaschen; ich bin durch das Flussbett gelaufen, durch das genau wie damals nur ein schmales Rinnsal rieselte; ich habe mich zwischen den Höckern des Felsens, den wir das Kamel nannten, ausgeruht; ich habe mich zwischen die Bambusstängel am anderen Ufer des Flusses gelegt und bin genau wie damals unter dem Summen der Insekten und den wärmenden Strahlen der Abendsonne beinahe eingeschlafen. Ich habe mich vom Ufer hinunter ins Flussbett rollen lassen, habe mit meinen Händen die dünne, harte Sandkruste zerbröckelt; wie ein Alligator bin ich dann durch das Bett weitergekrochen; ich habe meinen Kopf in die Sonne gehoben, habe die süße Luft gierig in meine Lungen gesogen und mich gefragt, wie es denn in aller Welt möglich war, dass die Zeit an diesem Fluss stillgestanden zu haben schien.
Und auch der Weiler selbst hatte sich nicht nennenswert verändert. Es waren halbherzige Versuche unternommen worden, die Promenade, die auf der anderen Seite des Dorfes begann, weiterzubauen; aber entweder war das Budget bald ausgeschöpft gewesen, oder die Verantwortlichen hatten sich nicht über die Wahl des Pflasters einigen können oder vielleicht sogar plötzlich am Nutzen der Anlage an sich gezweifelt. Der Weg, der vom Apartmenthaus zum Strand führte, war noch immer nicht gepflastert, und so gingen die feinen Kieselsteine, die in die Fußsohlen pieksten, nach wie vor völlig unerklärlich und abrupt in den lockeren, weichen Sand des Strandes über. Und dann war da genau wie damals das blendend weiße Licht, das auf den Wogen der See flimmerte und tanzte.
Es wohnten nun keine unzüchtigen oder verwaisten Mädchen mehr in dem Weiler, aber die Erinnerung an ihre bleichen Gesichter, ihre scheuen Blicke, ihre schemenhaften Gestalten, die sich in langen Zweierreihen durch das Dorf schoben, ihre strengen Uniformen und ihr schweres Schuhwerk durchkreuzte alle Pläne, endlich auch diesen Strandabschnitt für den Massentourismus aufzuwerfen. Solange sich jemand aus dem Weiler noch dieser trostlosen Prozession entsinnen konte, die tagtäglich zur Kirche und wieder zurück zog, konnte die Promenade wohl nicht angelegt werden. Erst wenn das Echo ihrer hastigen Schritte ganz verklungen sein würde, konnten die letzten Spuren ihrer Fußabdrücke zugedeckt werden.
Damals ließ Mama keine Gelegenheit ungenutzt, uns auf den enormen Unterschied zwischen unserem Los und dem der unglücklichen Mädchen hinzuweisen. Wir kannten weder Kummer noch Sorge; sie hingegen waren dazu verdammt, sich von morgens bis abends im Schweiße ihres Angesichts hinter dem Bügelbrett oder der Bügelmaschine abzuplagen. Manchmal, wenn wir vergessen hatten, unsere Kleider abends ordentlich über den Stuhl am Fußende unseres Bettes zu legen oder nach dem Malen unsere Farbschälchen auszuwaschen, drohte sie uns damit, uns in die Anstalt zu stecken. Dann erst würden wir begreifen, wie gut wir es hatten und wie schändlich man uns von Geburt an verwöhnt hatte. Dennoch tat die Anwesenheit der Mädchen unserem Ferienvergnügen keinen Abbruch. Sie gehörten ebenso zu dem Dorf wie die dicken, keifenden Mamas mit ihren schweren Brüsten und ihrem watschelnden Gang, die großen, weißen Schleifen, die sie am Sonntag ihren Töchtern ins Haar banden, das lebhafte Geschwätz in den Geschäften, das das Einkaufen zu einer tagfüllenden Beschäftigung machte, und die muskulösen, geschmeidigen jungen Männer, die von einem Felsen im Meer aus mit Harpunen Jagd auf Tintenfische machten. Dies war Spanien, und Franco war an der Macht, saß wie eine fette Spinne auf seinem Thron in einem fernen Palast und spann von dort aus das Netz, das sein Land erstickte. Die Mädchen waren ein Kuriosum, über das die Erwachsenen bei Tisch Witze machten oder sich einige wenige Male auch mit Bedauern äußerten. Aber öfter noch waren die jungen Tintenfischjäger Gesprächsthema, und es wurde heftig darüber spekuliert, wie geschickt ein solcher Harpunier sich anstellen musste, um sich im Dorf einen Namen zu machen, und wie viele Tintenfische er einer spanischen Mama darbringen musste, um ihrer Tochter den Hof machen zu dürfen. Wenn Heleen, Judith und ich aufgeregt über das Wenige berichteten, das wir von unserem Plätzchen in der Platane aus von der Anstalt erspähen konnten, mussten wir enttäuscht feststellen, dass die Erwachsenen unsere Faszination nur in Maßen teilten. Sie tranken lieber ihren Wein, zankten sich über das Essen, priesen die Sonne und das Meer und dachten sich Namen für die Tintenfischfänger aus, denen sie jeden Tag am Strand zuschauten. Auch die Direktorin der Anstalt, die am Sonntag ihr Haar mit einem Seidenkopftuch bedeckte, auf das eine blaue Taube aufgestickt war, bekam von Mama einen Namen. Die hält sich für eine Verwandte von Picasso, sagte Mama, und nannte sie Paloma. Aber die Mädchen bekamen keinen Namen. Die Mädchen waren die Mädchen. Tante Simone, sagt Mama heute, hat sich genauso wenig um ihr Schicksal geschert wie alle anderen, auch wenn sie einmal behauptet hat, dass sie allein ihretwegen nur einen einzigen Sommer mit uns mitgekommen sei. Leeres Geschwätz, sagt Mama, hör nicht auf sie.