Kage Baker: Die Ufer der Neuen Welt

Man schreibt das Jahr 1699 n. Chr., wir befinden uns in Südamerika: tiefster Dschungel, grüne Schatten, schräg hereinfallende Streifen Sonnenlicht, ein dunkler, schwerer, überreifer Geruch hängt in der Luft. Jaguare streifen herum. Orchideen stehen in Blüte. Im Hintergrund kleine Vögel und Affen, die beständig kleine Vogel- und Affenlaute von sich geben.

Und hier die Verlorene Stadt inmitten des Dschungels: plötzlich weit flutendes Sonnenlicht und Stille inmitten all dieser malariageschwängerten Düsterkeit. Rote und weiße Stuckpyramiden. Treppen und Höfe und breite Wege, schnurgerade. Noch gerader. Eine wirklich beeindruckende Architektur draußen inmitten des Nichts. In Stein gemeißelte Götter und Könige allüberall.

Und da ist auch schon der unerschrockene spanische Jesuit, unser Held. Unmöglich, ihn für etwas anderes zu halten. Er hat die kleinen schwarzen Rosinenaugen, die spanische Priester angeblich immer haben, nur haben die seinen diesen verschmitzten Ausdruck, den man bei den Meistern der Inquisition sonst vermisst. Er trägt den schwarzen Talar, die Stiefel, das Kruzifix; er ist klein – oder sagen wir lieber kompakt gebaut – und hat einen olivfarbenen Teint. Eine Rasur würde ihm ganz gewiss nicht schaden.

Er pirscht sich vorsichtig durch den Dschungel, und seine niedlichen kleinen Augen werden ganz groß, als er die Verlorene Stadt erblickt. Von irgendwo unter seinem Talar zieht er ein viereckig zusammengelegtes Stück Schafsleder hervor und klappt es auf, um eine recht kompliziert aussehende Zeichnung in roter und blauer Tinte zu studieren. Offensichtlich orientiert er sich, bevor er dann schnell zu einer Mauer weitergeht, die mit mürrisch dreinblickenden Gipsmonstern verziert ist, deren schrecklicher Zorn sogar die Lianen und Orhideen davon abhält, sich an ihnen emporzuranken. Er geht an der Mauer entlang, zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig, bis er schließlich zum Jaguartor gelangt.

Das ist ein beeindruckendes, hoch aufragendes, megalithartiges Ding aus rotem Gips, überragt von einem grünen Mauersturz, auf dem in Flachrelief zwei Jaguare gemeißelt sind. Aufrecht und grimmig stehen sie da, bereit zum Kampf, mit Augen und Klauen aus Goldintarsien. Oh, aber da ist noch mehr: Kein wirkliches Tor verstellt diesen Tordurchgang, keine rostenden Gitterstäbe aus Eisen, o nein. Stattdessen schimmert dort eine solide Welle aus mattblauem Licht, das den Blick auf die fabelhafte Stadt dahinter etwas verschleiert. Wer ein wirklich gutes Gehör hat – und das hat der spanische Jesuit -, der kann das feine Summen, Knistern, Surren des blauen Lichts gerade noch wahrnehmen.

Und was sind diese hässlichen kleinen Haufen auf dem Boden des Tordurchgangs? Zahllose geröstete Insekten und auch ein oder zwei geröstete Vögel und – ach, du mein Schreck! , der spanische Jesuit will nicht mal dran denken, was dieses kohlrabenschwarze, verkrümmte Ding da drüben sein könnte, das mit seiner skelettierten Klaue nach dem blauen Licht greift. Ganz bestimmt doch nur ein toter Affe.

Nach einem prüfenden Blick auf die piktographische Inschrift, die sich auf einer Seite des Torbogens hinaufzieht, findet der Jesuit, was er gesucht hat: einen kleinen schwarzen Spalt im Gesicht einer Papageien-Gottheit, die entweder gerade einen Gefangenen enthauptet oder eine Bananenpflanze befruchtet, je nachdem, wie gut man sich mit Bildsymbolik auskennt. Der Jesuit betrachtet die Darstellung eingehend und greift dann in einen kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel. Er zieht einen Gegenstand heraus, einen goldenen Schlüssel in einem seltsamen und mitnichten schlüsselartigen Design. Wie kommt nun der spanische Jesuit zu einem solchen Schlüssel? Hat er in einem lange vergessenen Buch, das in den Bibliotheken des Escorial vor sich hin schimmelt, von seiner geheimnisvollen Existenz gelesen? Hat er sein Woher und Wohin durch die Neue Welt verfolgt, indem er einer lang verborgen gewesenen Fährte durch unaussprechliche Gefahren gefolgt ist? Ich weiß darüber so viel wie Sie. Jedenfalls hält er nun den Atem an und führt ihn in das Schnabelschloss der Papageien-Gottheit ein.

Unverzüglich ertönt ein aufreizendes, schrilles Geräusch, und der spanische Jesuit weiß, ohne dass man es ihm gesagt hätte, dass jemand von seiner Ankunft benachrichtigt wurde. Vielleicht auch mehrere Jemande. Das blaue Licht erzittert und verlöscht für eine Sekunde. Sofort ergreift der spanische Jesuit die Gelegenheit und springt durch den Torbogen, wobei er sich für einen Mann in einer langen Soutane bemerkenswert flink bewegt. Kaum ist er auf der anderen Seite angekommen, blinkt das blaue Licht wieder auf, und ein Moskito, der versucht hatte, dem spanischen Jesuiten zu folgen, findet ein schreckliches, wenn auch nicht verfrühtes Ende in einer Funkensalve. Der spanische Jesuit atmet erleichtert auf. Er hat Eintritt in die Verlorene Stadt erhalten.

Er bahnt sich seinen Weg durch die ehrfurchtgebietende Ansammlung geheimnisvoller geometrischer Formen und gelangt zu einem schattigen Hof, in dem ein Brunnen plätschert. In Stein gemeißelte Tische und Stühle sind hier aufgestellt. Er nimmt Platz. Ein steifes, mit Schriftzeichen bedecktes Stück Pergament liegt auf dem Tisch. Er beugt sich nach vorne, um einen interessierten Blick daraufzuwerfen. Da erscheint ein Schatten in einem Torbogen, und als der spanische Jesuit auf sieht, sieht er den Alten Maya vor sich stehen.

Auch dieser Typ ist leicht zu erkennen. Federschmuck im Haar, Lendenschurz aus Jaguarleder, seidig schwarzer Pagenkopf. Hakennase und hohe Wangenknochen. Trauriger und leicht spöttischer Gesichtsausdruck, wie sich das für einen Abkömmling eines lange untergegan genen Reiches gehört. Bedeutet dies nun das Ende des spanischen Jesuiten?

Nein, denn der Alte Maya verbeugt sich, sodass seine grünen Federn wedelnd nach vorne kippen, und erkundigt sich:

»Wie kann ich dem Sohn des Himmels dienen?«

Der Jesuit wirft einen Blick auf das Pergament.

»Nun, der Margarita Grande sieht ziemlich gut aus. On the rocks, mit Salz, okay? Und bringen Sie mir gleich zwei. Ich erwarte noch eine Freundin.«

(Mit freundlicher Genehmigung durch Random House)